Stadtblatt-Beitrag von Nicolá Lutzmann – Ausgabe vom 13.11.2019//
Als Biologe sehe ich ungern Tiere oder Pflanzen als negative Sinnbilder von Phänomenen der Menschen. Doch drängte sich mir in den letzten Wochen immer wieder das Bild des Kraken auf, der tief unten in Löchern wohnt, von dort jeden Winkel mit seinen vielen Armen auskundschaftet, jede Ecke ertastet, jeden Spalt ausnutzt, sich durch jede Lücke zwängt, sich mit seinen Saugnäpfen schnell und effektiv scheinbar überall festhaftet, sich mannigfaltig verändern, sich perfekt an den Untergrund anpassen kann, sei es farblich oder plastisch, schwer greifbar ist, selten zeigt er sich offen und wenn, dann weil er sich sicher fühlt. Dieses Bild passt einfach doch zu gut für den Antisemitismus. Man stößt auf ihn – leider immer öfter – im Gespräch mit Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen, er versteckt sich hinter „das wird man ja mal sagen dürfen“ und Boykottaufrufen, aber auch sehr offen unter Parolen wie „Vogelschiss der Geschichte“ oder „Denkmal der Schande“.
Die Schreckensnacht 1938
Am 9. November vor 81 Jahren war der Krake Antisemitismus sich seiner Sache so sicher, dass er sich in ganz Deutschland offen zeigen konnte. Organisiert und anstachelnd sind die SA-Truppen durch deutsche Städte gezogen, haben jüdische Gotteshäuser, Geschäfte, Häuser und Wohnungen verwüstet, angezündet, zerstört, Menschen beschimpft, verhaftet, misshandelt und erschlagen. Die Bevölkerung war nicht wirklich überrascht, hat zugeschaut und dann sogar mitgemacht. In Heidelberg wurden die Thora-Rollen am 9. November 1938 aus der Synagoge gebracht, doch nur, um sie eine Woche später auf dem Universitätsplatz durch Heidelberger Bürger*innen und Student*innen öffentlich zu verbrennen.
Angriffe heute wieder an der Tagesordnung
Es ist unbegreiflich, dass wir wieder in Zeiten leben, in denen Bürger*innen jüdischen Glaubens in Deutschland Angst haben, so zu leben, wie sie wollen, ihre Gottesdienste zu feiern und sich zu ihrer Religion zu bekennen. Nicht nur die vielen Vorfälle von schnippischen Bemerkungen, Abwertung oder offen geäußerten Verschwörungstheorien, sondern auch die tätlichen Angriffe auf Menschen, die Kippa tragen, machen deutlich, dass sich der Krake Antisemitismus gerade wieder sicher fühlt und meint, sich zeigen zu können. Nach dem mörderischen Angriff auf die Synagoge in Halle Anfang Oktober scheint die Gesellschaft wach gerüttelt worden zu sein und stellt sich wieder deutlich gegen das Geschwür des Antisemitismus. Das ist gut so!
Heidelberg zeigt Solidarität
Auch in Heidelberg haben viele Bürger*innen gezeigt, dass sie sich gegen jede Form von Hass und Gewalt stellen und an der Seite der jüdischen Gemeinde in Heidelberg stehen. Die Mahnwache am alten Synagogenplatz direkt nach dem Anschlag von Halle, die vielen Unterstützungsbekundungen durch E-Mails und Briefe, Blumen und andere Solidaritätsbekundungen an der neuen Synagoge oder die kurzfristig organisierte, aber gut besuchte Menschenkette um die neue Synagoge sind deutliche Zeichen, dass wir Heidelberg*innen eine offene Gesellschaft leben wollen. Dazu gehört auch, dass wir jährlich am 9. November darauf achten, dass die schrecklichen Ereignisse 1938 nicht vergessen werden, als sich der Krake so deutlich gezeigt hat und für Jahre Tod und Verderben über Jüd*innen in Europa und die Welt gebracht hat. Auch wenn wir uns gleichzeitig gerne an die Ereignisse des Mauerfalls am 9. November 1989 erinnern und die vor 30 Jahren errungene Freiheit feiern. Wir als Gesellschaft sind stark genug, die beiden Ereignisse nicht gegeneinander auszuspielen, sondern würdig zu gedenken. Das haben die Gedenkveranstaltungen letzten Samstag am alten Synagogenplatz oder am Platz der ebenfalls 1938 zerstörten Synagoge in Rohrbach gezeigt. Trotz Regen und Kälte haben sich viele Menschen eingefunden und zusammen mit Bürger*innen jüdischen Glaubens der Opfer nicht nur von damals, sondern auch des rechtsnationalen Terrors unserer Zeit gedacht und klargemacht: Wir sind mehr!
Comments are closed.