StaTtblatt* von Dr. Marilena Geugjes vom 26.10.2022
Am 16. September starb die 22-Jährige iranische Kurdin Mahsa Amini in ihrem Heimatland in Polizeigewahrsam. Sie war festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig getragen haben soll. Seither demonstrieren in Iran Tausende und in Solidarität mit ihnen zahlreiche Menschen auf der ganzen Welt.
Sie demonstrieren gegen das islamische, männliche Herrschaftssystem, das Frauen in Iran grundlegende Lebenschancen sowie Selbstbestimmung verweigert und zu Personen zweiten Ranges macht. Obwohl die Sicherheitskräfte im Land gewaltsam gegen Demonstrierende vorgehen und es bereits Dutzende Tote und Verletzte gibt, gehen die Menschen weiter auf die Straße. Allen voran Frauen, die demonstrativ ihre Kopftücher abnehmen, verbrennen, ihre Haare abschneiden und sich damit in akute Lebensgefahr bringen.
Nun ist Iran bekanntermaßen einige Kilometer von Heidelberg entfernt. Auch die politische Situation ist in keiner Weise vergleichbar mit der unseren und wir sind dankbar für unsere Demokratie und unseren säkularen Staat. Wir sind dankbar, dass wir unser Haar tragen dürfen, wie wir wollen, und dass wir auch in den (meisten) anderen Bereichen unseres Lebens Wahlfreiheit haben.
Wir zeigen uns klar solidarisch mit den iranischen Frauen. Ein berühmtes Zitat der Aktivistin Audre Lorde lautet: “Ich bin nicht frei, solange eine andere Frau unfrei ist, auch wenn ihre Fesseln sich von meinen unterscheiden”.
Auf der ganzen Welt kämpfen Frauen gegen solche Fesseln, auch wenn diese tatsächlich sehr unterschiedlich aussehen. In Afghanistan beispielsweise kämpfen Mädchen und Frauen für ihr Recht auf Bildung, das ihnen von den Taliban verwehrt wird, in den USA gegen fundamentalchristliche Konservative für das Recht auf ihren eigenen Körper. Dass wir hier in Europa unser Haar tragen dürfen, wie wir wollen, und zumindest theoretisch frei wählen dürfen, wie wir leben möchten, haben genau solche mutigen Frauen vor uns erkämpft. Ihnen zu Ehren kämpfen wir weiter. So lange, bis wir nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch frei sind von patriarchalen Strukturen. So lange, bis wir uns nicht mehr rechtfertigen müssen, warum wir Karriere oder keine Karriere machen, warum wir kein Kind, nur ein Kind oder gleich vier Kinder haben, warum wir zu viel oder zu wenig Kleidung anhaben. Und bis Mädchen in allen Bereichen unserer Gesellschaft Vorbilder finden, mit denen sie sich identifizieren können. Auch in der Politik.
Auch hier in Heidelberg gibt es noch viel zu tun. Dass wir auch hier noch keine Geschlechtergerechtigkeit erreicht haben, hat zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Denn es waren die Frauen, die ihre Jobs nur noch in Teilzeit ausübten, um auf die Kinder aufzupassen und damit eine große Mehrbelastung auf sich nahmen, während die meisten Männer Vollzeit arbeiten gingen. Und das Frauenhaus verzeichnete traurige Rekorde, als der Rückzug ins Private für eine Zunahme von Gewalt gegen Frauen sorgte. Erst zuletzt machte Heidelberg unangenehme Schlagzeilen, weil es keine einzige Frau unter den Führungskräften der kommunalen Unternehmen gab. Inzwischen haben die Heidelberger Dienste eine Geschäftsführerin. Darüber freuen wir uns zwar, können uns aber unmöglich damit zufriedengeben. Ständig lächeln uns auf Fotos von Spatenstichen für Bauvorhaben in der Stadt riesige Männergruppen entgegen – ohne eine einzige Frau. Und auch bei der ein oder anderen Kampagne für die OB*in-Wahl fällt aktuell auf, dass sie stark auf Männer fokussieren und Frauen kaum abgebildet sind.
Auch wenn unsere Fesseln anders sind als die der Frauen in Iran, Afghanistan oder den USA, müssen wir aufpassen, dass wir nicht unbemerkt wieder zurückgedrängt werden. Wir brauchen weiterhin starke weibliche Stimmen, die es schaffen, gesellschaftliche Strukturen nachhaltig zu ändern, um es allen nachfolgenden Frauen leichter zu machen, Gleichberechtigung tatsächlich zu leben.
*StaTtblatt statt Stadtblatt: Das offizielle Stadtblatt der Stadt Heidelberg erscheint aufgrund der Karenzzeit vor der Oberbürgermeisterwahl derzeit ohne die Stimmen aus dem Gemeinderat, wo sich die Grünen-Gemeinderatsfraktion jeden Mittwoch zu kommunalen Themen äußert. Da die grüne Fraktion aber natürlich weiter aktiv ist und es genug zu berichten gibt, veröffentlichen wir jeden Mittwoch unseren „Stattblatt“-Beitrag sowohl hier auf unserer Homepage als auch über Facebook, Twitter und Instagram.
Foto: Florian Freundt
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