Am 11. April war der Münchner Soziologe und „Kursbuch“-Herausgeber Armin Nassehi bei einer Veranstaltung der Heidelberger Grünen zu Gast. Im Gespräch mit der Landtagsabgeordneten und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer ging es um die Frage, wie Politik in einer digital und international vernetzten Welt, in der Zusammenhänge immer komplexer werden, dennoch handlungsfähig bleiben und Lösungen für gesellschaftliche Probleme liefern kann. Denn Nassehis Grundthese, die er in dem 2017 in der zweiten Auflage erschienenen Buch „ Die letzte Stunde der Wahrheit“ ausführlich entwickelt, lautet: egal, ob es sich um linke oder konservative Beschreibungen der Welt handelt – politische Botschaften und auch daraus resultierende Steuerungsversuche werden der Komplexität der Gesellschaft nie wirklich gerecht. Für kein Problem, das gelöst werden muss, ist die Lösung so einfach, wie die politische Debatte – erst recht in Wahlkampfzeiten – dies suggeriert. Jede gesellschaftliche Stellschraube, an der gedreht wird, bringt nicht nur die gewünschten Effekte mit sich, sondern verändert auch Rahmenbedingungen an vielen anderen Stellen. Diese mitzudenken ist schon eine große Herausforderung für die handelnden Politiker – sie auch in der politischen Kommunikation angemessen zu würdigen, nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Denn, auch das konstatiert Nassehi, selbstverständlich gehört zum Kerngeschäft der Politik nicht nur, Entscheidungen zu treffen, sondern diese auch in verständliche Botschaften zu übersetzen. „Dieser Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, Lösungen zu finden, die der Komplexität des Problems gerecht werden und diese zugleich möglichst einfach vermitteln zu müssen, ist das zentrale Problem des Politischen“, so Nassehi.
Wie also kann Politik auch in einer komplexen, dynamischen Zeit, in der die Herausforderungen für politische Entscheider – von Klimawandel über weltweite Migrationsbewegungen bis zur Krise Europas – kaum größer sein könnten, dennoch weiter handlungsfähig bleiben? Darüber diskutierten Theresia Bauer und Armin Nassehi im Anschluss an dessen Vortrag. Dabei arbeiteten sie heraus, dass eine wichtige Aufgabe für die Politik ist, Übersetzungen zwischen verschiedenen Perspektiven auf gesellschaftliche Probleme zu schaffen. Denn in diesen unterschiedlichen Perspektiven liegt für den Systemtheoretiker Nassehi eine wichtige Quelle für Komplexität. Am Beispiel Klimawandel machte er das deutlich: das Spektrum der Perspektiven reiche hier von der Wahrnehmung als einer apokalyptischen Bedrohung bis zur Position, es handle sich um ein Hirngespinst verrückter Großstädter. Dass wissenschaftlich eindeutig geklärt ist, dass wir es mit einer relevanten und menschengemachten Bedrohung zu tun haben, ändert dann nichts daran, dass es Aufgabe der Politik ist, eine Lösung finden, die aus Sicht beider Perspektiven zumindest legitim ist.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, so waren sich Armin Nassehi und Theresia Bauer einig, ist es hilfreich, wenn es Orte gibt, an denen sich widersprechenden Perspektiven aufeinandertreffen und in einen fruchtbaren Austausch treten können. Nassehi, der unter anderem zur Palliativmedizin geforscht hat, nannte Ethikräte als ein Beispiel für solche Orte. Dort kommen eben nicht nur Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler, Ingenieure, Mediziner, Juristen und Sozialwissenschaftler zusammen, um ethische Fragen zu diskutieren und dabei ein Verständnis für die Perspektive der jeweils anderen zu entwickeln. Anhand eines aktuellen Heidelberger Beispiels, des Beteiligungsprozesses zum Masterplan für das Neuenheimer Feld benannte Nassehi Erfolgsbedingungen für das Gelingen solcher Dialogprozesse: „Aufgabe von Politik ist das Ermöglichen von Handlungsspielräumen. Dazu braucht es Freiheit, Risikobereitschaft und Diversität. Das Wichtigste ist aber: die Prozesse müssen so gestaltet sein, dass Menschen in deren Verlauf ihre Perspektive ändern!“
Eine weitere Möglichkeit politischen Handelns unter Komplexität könnte laut Nassehi das Etablieren von Strukturen sein, in denen, als Ergänzung zum Parlament als demographischer Repräsentation der Bevölkerung, gesellschaftliche Funktionen repräsentiert werden. Dies, so Nassehi, helfe zumindest zu erkennen: „Es gibt keine Lösung aus einem Guss – Ziel ist daher auch nicht Konsens, sondern legitime Entscheidungen, auch unter Zeitdruck.“
„Klar ist, dass es auf die Frage nach dem Umgang mit Komplexität keine einfache Antwort geben kann“, so Theresia Bauer abschließend. „Aber klar ist auch, dass Politik sich verändern muss, dass es neuer Zugänge und Formate bedarf, wenn sie ihrer Kernaufgabe, legitime Entscheidungen für alle zu treffen, auch unter komplexen Bedingungen gerecht werden will. Ansätze dafür gibt es bereits und ich nehme insbesondere den Auftrag mit, den fruchtbaren politischen Austausch zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Gesellschaft zu befördern, wo immer es geht.“
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